Autor: Kate Elizabeth Russell
Titel: Meine dunkle Vanessa
Herausgeber: C. Bertelsmann Verlag
Datum der Erstveröffentlichung: 17. August 2020
Buchlänge: 448 Seiten
Titel der Originalausgabe: My Dark Vanessa
ISBN: 978-3-570-10427-9
Preis: HC 20,00€ / eBook 14,99€
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♥ Dieser Beitrag enthält Werbung, da es sich um ein Rezensionsexemplar handelt ♥
Vanessa ist gerade fünfzehn, als sie das erste Mal mit ihrem Englisch-Lehrer schläft. Jacob Strane ist der einzige Mensch, der sie wirklich versteht. Und Vanessa ist sich sicher: Es ist Liebe. Alles geschieht mit ihrem Einverständnis. Fast zwanzig Jahre später wird Strane von einer anderen ehemaligen Schülerin wegen sexuellen Missbrauchs angezeigt. Taylor kontaktiert Vanessa und bittet sie um Unterstützung. Das zwingt Vanessa zu einer erbarmungslosen Entscheidung: Stillschweigen bewahren oder ihrer Beziehung zu Strane auf den Grund gehen. Doch kann es ihr wirklich gelingen, ihre eigene Geschichte umzudeuten – war auch sie nur Stranes Opfer?
Quelle: C. Bertelsmann Verlag
Bücher über sexuellen Missbrauch sind keine leichte Kost und obwohl ich Geschichten solcher Art eigentlich gerne lese, meide ich doch jene mit genau dieser Thematik. Meiner bisherigen Ansicht nach muss ich darüber nichts lesen, denn selbst wenn mir nie irgendetwas in dieser Art jemals passiert ist, kann ich mir sehr wohl vorstellen, wie schwerwiegend die Folgen für den Körper und die Psyche einer betroffenen Person sein müssen. Das mag jetzt vielleicht ignorant klingen, aber irgendwie schütze ich mich selbst, solche Bücher bewusst zu meiden, gerade wenn es um den Missbrauch von Kindern geht.
Zu groß ist meine Angst, dass meiner Tochter so etwas widerfahren könnte und zu groß ist meine Angst, wenn ich mir ausmale, wie sie und ich daran zerbrechen.
Doch dann kam Meine dunkle Vanessa, ein weiblicher Gegenentwurf zu Nabokovs Lolita, heraus und ich wollte es lesen. Mich selbst davon überzeugen, warum so viele über dieses Buch sprechen. Und das habe ich nun getan.
Seit acht Stunden ist der Post online.
224 Mal wurde er bereits geteilt und die Anzahl der Likes steigt minütlich. 875 sind es bisher.
Und obwohl Vanessa versucht nicht ständig auf ihr Handy zu starren gelingt ihr das nicht.
Warum hat Strane bisher nicht auf ihre Nachricht reagiert? Seit: Und, alles klar bei dir? sind bereits vier Stunden vergangen und er hat die SMS noch nicht einmal gelesen.
Doch was kümmert sie das eigentlich? Schließlich ist er selbst schuld an dieser Situation und ein Paar sind sie ebenfalls nicht mehr…
Aber der Beitrag, der Vanessa so zusetzt ist von Taylor, einer jungen Frau, die die gleiche Schule besucht hat wie sie. Und das ist nicht die einzige Gemeinsamkeit, denn auch vom gleichen Lehrer wurden sie dort unterrichtet: Jocob Strane. Und genau er wird jetzt der sexueller Belästigung und des Missbrauch beschuldigt.
Das kann aber nicht sein. Vanessa kennt Strane und weiß um die magische Verbindung, die ihre Beziehung damals wie heute geprägt hat.
Er merkte schließlich damals, dass sie etwas Besonderes war und für sie hat der Altersunterschied nie eine Rolle gespielt. Sie haben sich geliebt – waren seelenverwandt.
Damals, als sie fünfzehn war und er zweiundvierzig.
Es gibt ja bereits einige Bücher, die Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern thematisieren und vor allem romantisieren. Nur unterscheiden sie sich zu diesem hier massiv in folgenden Punkten: zum einen vom Alter der Protagonisten und auch in der Darstellung eben jener.
Denn während es sich bei den Lehrern wie beispielsweise in Weil ich Layken liebe oder Losing it immer um attraktive Junglehrer handelt, ist Jacob Strane in Meine dunkle Vanessa genau das Gegenteil: 42 Jahre alt, mit deutlichem Bauchansatz und einer Brille mit altmodischem Metallgestell.
Und trotzdem schafft er es, die 15-jährige Vanessa in seinen Bann zu ziehen.
Wie? Er schenkt ihr die Aufmerksamkeit, die sie sich so sehnlichst von der Familie und von Freunden wünscht. Er hört ihr zu, wenn sie über ihre Ängste und Sorgen redet, liest begeistert ihre Gedichte und bestätigt ihr dabei immer wieder, dass sie etwas besonderes ist. Zuerst mit Worten und dann mit einer Berührung ihres Knies und so nimmt das Ganze seinen Lauf.
Ich müsste lügen, wenn ich sage, dass ich die Geschichte genossen habe. Vielmehr habe ich mich gezwungen und schuldig gefühlt weiterzulesen, weil es mich gequält hat. Vor allem die ersten 150 Seiten.
Ich kam mir vor, als dürfte ich die Worte gar nicht lesen, die hier geschrieben sind, weil sie viel zu privat waren, zu viel Schmerz hinterlassen und einen ungewollten Voyeur aus mir gemacht haben. Mir war mulmig zumute, oft sogar so sehr, dass ich das Buch gerade am Anfang weglegen musste. Und doch hat mich Vanessas Geschichte gepackt, dass ich regelrecht von mir selbst erschrocken war.
Und das lag nicht nur an der heiklen Thematik, sondern vor allem an den perfekt gezeichneten Figuren, der stilistischen und erschreckend realen Umsetzung, der sprachlichen Ausführung und am Handlungsverlauf, der den Plot umso krasser macht.
Dabei muss man Kate Elizabeth Russell vor allem zugutehalten, dass sie äußerst behutsam mit dem Thema umgegangen ist und dennoch einen authentischen Zugang zur Missbrauchsthematik gefunden hat. Denn dieser führt dem Leser ganz klar vor Augen wie alltäglich und traurig diese verdammte Sache ist und stellt auch in aller Deutlichkeit die Kernfrage: Wo beginnt Missbrauch? Ab wann kann man jemanden wegen sexueller Belästigung anklagen?
Ist eine Beziehung zwischen einem 42-jährigen Mann und einem noch minderjährigen Teenager in Ordnung, wenn sich beide für diese aussprechen?
Ich denke ich muss euch, gerade auf letztere nicht wirklich eine Antwort geben.
Aber genau hier wird es perfide, denn für Vanessa war es Liebe. Jede Berührung, jeder Kuss und jeder Geschlechtsverkehr geschah im gegenseitigen Einverständnis – ihrer Meinung nach hat Strane sie niemals gegen ihren Willen berührt. Also käme sie auch nie auf den Gedanken ihn dafür anzuzeigen.
Und dieser Umstand hat mich an vielen Stellen nachdenklich gemacht, wobei ich mich keine Sekunde später schon wieder für diesen Gedanken geohrfeigt habe.
Doch das ist zugleich wohl auch das Grausamste an der Geschichte. Denn durch den Schreibstil der Autorin man ist immer hautnah mit dabei und fühlt den emotionalen Kampf, den die Protagonisten gerade durchleben.
Ich war angeekelt von den unterschwelligen sexuellen Annäherungsversuchen von Strane, die Vanessa Stück für Stück in eine ausweglose Situation befördert haben und doch konnte ich sie irgendwie verstehen. Ich war diesem einen Moment hilflos ausgeliefert, als aus ihrem freien Willen eine Abhängigkeit wurde und auch da habe ich sie ein Stück weit verstanden.
Genau das ist es: Man fühlt einfach alles.
Vanessa klammert sich die ganze Zeit verzweifelt an ihre Überzeugung, sie sei kein bemitleidenswertes Opfer, sie habe es selbst gewollt.
Und diese Denkweise hat mich tatsächlich fast an den Rand des erträglichen gebracht.
Fazit
Meine dunkle Vanessa hat mich bis in den Schlaf verfolgt und selbst dort hat sich die Handlung noch in meinem Kopf verselbstständigt. Das Buch hat mich beschäftigt – und zwar Tag und Nacht.
Dabei ist Vanessa nicht immer sympathisch gezeichnet, aber genau das macht den Unterschied und die Geschichte so beklemmend real.
Für mich ganz klar ein Highlight des Jahres 2020, auch wenn ich mich während des Lesens die meiste Zeit in meiner eigenen Haut nicht mehr wohl gefühlt habe.
♥ Vielen Dank an den C. Bertelsmann Verlag für die Zusendung des Rezensionsexemplars! ♥
Über die Autorin
Kate Elizabeth Russell wurde in Maine geboren und hat an der University of Kansas promoviert. Sie schreibt für verschiedene Magazine, und eine ihrer Erzählungen wurde für den renommierten Pushcart Preis nominiert. Ihr Debütroman »Meine dunkle Vanessa« stieg direkt nach Erscheinen in die Top Ten der New-York-Times-Bestsellerliste ein und wird von Kritikern wie Leserinnen heiß diskutiert. Das Buch erscheint in rund 25 Ländern. Kate Elizabeth Russell lebt in Madison, Wisconsin.
Quelle: C. Bertelsmann Verlag